Paradigmenwechsel in der Baubranche: Quo Vadis?

Interview mit Dipl.-Ing. (TU) Martin Hirner

Was sind für Sie derzeit als Architekt die größten Herausforderungen? 

Wir stecken als Architekturbüro mit fünfzig Mitarbeitern in einem Dilemma. Aus Nachhaltigkeitsgründen sollten wir aus meiner Sicht eigentlich kaum mehr bauen, sieben Prozent des Kohlendioxid-Ausstoßes kommt allein von der Zementindustrie. Andererseits bin ich Arbeitgeber und gewisse Bautypologien wie Schulen und Krankenhäuser und natürlich Wohnungen werden nach wie vor gebraucht. Man steckt in einer echten Zwickmühle und muss abwägen, welche Projekte wirklich notwendig sind und welche nicht. Wir machen viel mit Holz, aber auch da gibt es gewisse Fragezeichen. Alles mit Holz zu bauen, ist auch nicht die heile Welt. Auch beim Holzbau werden im Keller die Fundamente betoniert, manchmal auch das Erdgeschoss noch. Es werden noch viele andere Materialien verwendet, Estrich zum Beispiel ist auch Zement. Es ist also nicht so, dass man nur mit Holz baut wenn man einen Holzbau plant. Man sollte sich vielleicht darauf beschränken, nur die Projekte zu bauen, die die Gesellschaft wirklich braucht. Und da frage ich mich manchmal bei gewissen Bau-Vorhaben, muss ich wirklich halb München abreißen und neu aufbauen? Ist das wirklich nötig? Könnte man das eine oder andere Gebäude nicht auch umbauen? 




Wie wichtig bleibt der Architekt in Zeiten des Wandels?

Ganz wichtig, weil er das Ganze überschaut. Er ist der Dirigent und ist sogar noch wichtiger als früher. Fragen, die sich noch vor dem Entwurf stellen, kann ein Bauamt nicht beantworten. Wie zum Beispiel: Sollen wir das alte Haus wegreißen? Ist das noch sinnvoll? Kann man es umnutzen? Kann man nicht vielleicht woanders bauen? Kann man es erweitern? Es ist also der Architekt, der bestmöglich beurteilen kann, ob eine Sanierung oder ein Neubau sinnvoll ist. Bei dem Pflegeheim, über das ich anfänglich sprach, sollte ursprünglich das alte erweitert werden. Wir sind dann über viele Studien darauf gekommen, dass eine Erweiterung nie wirtschaftlich zu realisieren ist, weil das für die inneren Abläufe viel zu komplex ist und dass in dem Fall nur ein Neubau einen Sinn macht. Das Pflegeheim wird also neu gebaut, während in den Bestandsbau altengerechte Wohngemeinschaften reinkommen. Das Zusammenführen und die Bewertung der Parameter liegt im Kompetenzbereich der Architekt:innen, das kann kein anderer. Gerade in Zeiten der Nachhaltigkeit, in denen überlegt wird, ob ein Gebäude abgerissen und neugebaut oder saniert wird, sind Architekt:innen total gefragt. 




Sie werden als Architekten immer noch konfrontiert mit über dreißig Jahre zurückliegenden Baugesetzen. Wie kommen Sie damit klar?

Es werden vor allem immer mehr Baugesetzte und immer mehr Normen, die uns das Arbeiten erschweren. Wir sind überreglementiert, und zwar bis über den Kopf hinweg. Es gibt zu viele Regeln, man kann sie ja gar nicht alle kennen, mehr als 3500 Normen bloß für das Bauen. Das liegt natürlich auch an der Industrie, die dafür sorgt, dass die Standards immer höher geschraubt werden. Weil natürlich das Interesse besteht, immer mehr Produkte zu verkaufen. Die Häuser werden aber deswegen nicht besser – aber sicher wird das Bauen teurer.




Was würden Sie als erstes abschaffen wollen, wenn Sie die Entscheidung treffen könnten? 

Ich hätte gern, dass wir die Möglichkeiten hätten, mit Einverständnis des Bauherren einige Standards – z.B. den Schallschutz – zu reduzieren. Ich wohne hier in München in einer Altbauwohnung. Wenn der Nachbar über mir in der Wohnung in der Früh aufsteht und den Rollladen hochzieht kann ich das hören. Und auch Gespräche im Treppenhaus kann man manchmal hören, was ich nicht als störend empfinde, im Gegenteil: Ich bin froh zu merken, da leben noch andere Menschen im Haus. Die Wohnung ist jetzt viel Geld wert, weil sie in einem guten Viertel liegt, weil sie Stuckdecken und hohe Räume hat. Der Keller ist aber feucht, es gibt auch keinen Lift und keine Tiefgarage, ein wirklich ganz einfaches altes Haus ohne diese ganzen Standards. Wir haben eine Holztreppe und falls es einmal brennen sollte, weiß ich nicht, ob ich dann noch rauskomme und mich rechtzeitig retten könnte. Aber da die Feuerwache um die Ecke ist werden sie uns hoffentlich schon irgendwie rausholen.Keiner käme auf die Idee zu sagen, „Wir fahren nicht mehr Auto weil es soviele Verkehrstote gibt“ Da muss sich die Gesellschaft auch mal fragen, welches Risiko sie bereit ist, einzugehen. Es gibt so unglaublich viele Regelungen, die es früher nicht gab. Ich bin in eine Schule aus dem 19. Jahrhundert gegangen und diese Schule ist nie saniert worden. Jetzt erst, nach 200 Jahren, haben sie eine Generalsanierung vorgenommen. Heute wird jede Schule nach 30 Jahren generalsaniert. 




Der öffentlicher Raum ist in vielen Städten Mangelware und meistens in irgendeiner Form gekoppelt an Konsum. Sie sind Stadtplaner, wie beurteilen Sie die Situation?

Dazu kann ich eine schöne Geschichte erzählen. Wir haben vor circa zwanzig Jahren den Wettbewerb für die komplette Fußgängerzone in Bayreuth gewonnen und durften diese Aufgabe in einzelnen Bauabschnitten über viele Jahre umsetzen. Wir wurden damals mit vielen Ansprüchen an die Fußgängerzone bombardiert, sei es von den Anliegern, von der Gemeinde oder von allen möglichen Beteiligten. Alles Partikular-Interessen! Die Wirte wollten natürlich möglichst viele Freischank-Flächen, was man ja auch versteht. Nun muss man diese Interessen in Einklang bringen mit den Passanten, die sich einfach in der Zone nur hinsetzen und ihr Eis essen oder einfach nur dasitzen und schauen wollen. Ich habe mich dabei immer als Vertreter der anonymen Allgemeinheit verstanden. Gute Leute in der Stadtplanung und auch der damalige Bürgermeister haben das verstanden und baten um die Planung großer Bereiche, wo man sich einfach hinsetzen kann, ohne dass gleich einer kommt und einem zum Konsum auffordert. Und so haben wir es dann auch umgesetzt, die Innenstadt mit Aufenthaltsbereichen mit Sitzplätzen und Kinderspielplätzen, mit großen Bäumen, die Schatten spenden.




Gast

Architekturwelt
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Dipl.-Ing. (TU) Martin Hirner

Hirner & Riehl Architekten

Martin Hirner studierte an der TU München und der ETH Zürich Architektur. 
Nach der Gründung der Zimmerei H+P und nach seiner Tätigkeit als Baubezirksleiter bei der Erzdiözese München und Freising begann er 1990 eine Büropartnerschaft mit Martin Riehl. Seit 2000 ist er Mitglied im Bund Deutscher Architekten und auch als Preisrichter aktiv. 
Nachhaltiges Bauen, Holzbau, Bildungseinrichtungen und Sanierungen zählen zu seinen Arbeitsschwerpunkten. 
Martin Hirner hat bereits an mehr als 200 Wettbewerben mit über 70 Platzierungen teilgenommen. 

Gastgeberin

SabineGotthardt
SabineGotthardt

Sabine Gotthardt

Leader, Business Development Architecture & Real Estate Central Europe, LIXIL EMENA

Als Diplom-Ökonomin wurde sie 2008 von der GROHE Deutschland Vertriebs GmbH beauftragt, ein Netzwerk von VIP-Architekturbüros und Immobilienunternehmen aufzubauen, um deren Empfehlungsverhalten zugunsten von GROHE positiv zu beeinflussen. Als "Türöffnerin" entwickelte sie Strategien, um die Top-Entscheider der Architektur- und Innenarchitekturszene an GROHE zu binden. Verschiedene von ihr entwickelte Interviewreihen dokumentieren das Engagement von GROHE, die Entwicklungen und Veränderungen in der Baubranche als Partner zu begleiten.

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